Angst verstehen

Angst hat zunächst einmal die Aufgabe, ein Lebewesen zu schützen, z.B. die Gazelle vor dem Löwen. Angst vor einer realen Gefahr möchte ich hier als Furcht bezeichnen, um diese von den Symptomängsten des modernen Menschen zu unterscheiden. Angst bildet den Kern aller psychischen Symptome. Die Liste dieser Symptome finde Sie im Internet, wenn sie „ICD10“ eingeben. Psychische Erkrankungen  sind oft sehr stigmatisiert. Es ist mir hier ein Anliegen, Ihnen das Kontinuum deutlich zu machen, das „gesund“ und „krank“ verbindet. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass seelische Symptome, so schlimm sie auch sein mögen, eine wichtige Funktion erfüllen.

Körperliches Spüren beginnt im Mutterleib. Auch die Grundgefühle Liebe, Freude, Angst, Trauer, Zorn und Ekel, nehmen wir wahr, lange bevor wir unser erstes Wort formulieren. Der Mensch ist also ein zutiefst emotionales Wesen. Das ist wunderschön, macht uns aber auch sehr verletzlich. Ein wesentlicher Mechanismus bei der Entstehung von Angst ist unsere Furcht, keine Kontrolle über unser wahres Erleben zu haben. Vor dieser Furcht schützen Gefühle, mit denen wir besser umgehen können. Z.B ist es manchmal leichter wütend zu sein, als sich ohnmächtig zu erleben. Sich ein wenig zu ärgern, statt zu merken, eigentlich sich hilflos zu fühlen, oder traurig zu sein, ist noch nicht so schlimm. Symptome beginnen, wenn wir statt unsere  tieferen Gefühle wahrzunehmen, zu lange nur diese Gefühle erleben, die wir leichter ertragen können.

Der Preis für diesen Schutz ist eine reduzierte seelische Stabilität, weil die Möglichkeit der Psyche zu schwingen, beschränkt wird. (Sie können sich ruhig die Saite eines Musikinstrumentes vorstellen). Oft stabilisiert man sich recht gut mit einem Kompromiss. Einerseits kann die Psyche noch so weit schwingen, dass man sich meist recht fröhlich fühlt, anderseits bietet ein harmloses Symptom Schutz. Sehr viele Menschen haben eine kleine Phobie z.B. Höhenangst. Unbewusst wird dabei das eigentliche Gefühl, vor dem man sich fürchtet, von einer scheinbar sinnlosen Angst überlagert. Die Angst vor der Höhe hat man dann aber viel besser im Griff,  indem man  ihre Ursache (die Höhe) bewusst vermeiden kann. Ich habe absichtlich ein Beispiel mit fließendem Übergang zur Gesundheit gewählt. Zum Dachdecker ungeeignet zu sein, weil man nicht schwindelfrei ist, würde ich nicht als Höhenangst bezeichnen. Wer aber zu sich ehrlich sein will, wird den Unterschied zu einer „irrationalen“  Angst, gut erkennen.

Nicht immer gelingt dieser beschriebene Kompromiss. Wenn die Psyche nicht frei schwingen kann, ist sie weniger robust und damit anfälliger für zusätzliche Belastungen. Außerdem kann die Angst vor der Angst so groß werden, dass zusätzliche emotionale Dämpfung „nötig“ wird. Diese Dämpfung ist der Sinn aller weiteren seelischen Symptome. Egal ob Depression , Sucht-, Ess-, Zwangs- oder psychosomatische Probleme, immer handelt es sich um einen Versuch von Kontrolle und Beruhigung vorgelagerter Ängste. Depression nehmen zwar weltweit zu, vor allem aber, weil sie besser erkannt werden. Viele Menschen entschließen sich heute, schon wenn sie Panikattacken bemerken zu einer Psychotherapie. Dadurch kann die Depression oft vermieden werden, deren Sinn es ja ist, durch die Erstarrung des Gefühlslebens Kontrolle über die Ängste der Panikattacken zu bekommen. Im Text über die Wirkungsweise von Psychotherapie habe ich versucht, die m.E. basalen  Wirkmechanismen von Psychotherapie zu erklären.

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Leegasse 5/7, 1140 Wien